Reihenfolge der Berichte umgekehrt-chronologisch
Rudolf Rogg:
Siedlergewalt, Vertreibung und schleichende Annexion im Westjordanland
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Wer für eine der oben genannten Organisationen im besetzten Westjordanland unterwegs ist, hat zwei Aufträge: Er oder sie muss – erstens – die Lage vor Ort genau beobachten und dokumentieren, um dann – zweitens – in Deutschland darüber informieren.
Genau das tut Rudolf Rogg seit vielen Jahren. Zuletzt war er im Oktober 2024 in der Region; sein Bericht beruht also auf langjähriger Erfahrung und ist gleichzeitig sehr aktuell.
Die Beobachtungen, von denen er – gestützt auf viele eigene Fotos – berichtete, sind erschütternd.
Zunächst erinnerte er mit Hilfe von Landkarten an die Entwicklung der Aufteilung des gesamten Landes – also Israel plus Westjordanland – zwischen Israelis und Palästinensern. Die letzte Karte zeigte die drei Zonen, in die das Westjordanland seit den Osloverträgen (Oslo II: 1995) eingeteilt ist. Man kann sich nicht oft genug bewusstmachen, dass die Palästinenser in 60% des Landes, das nach diesen Verträgen einmal ihr eigener Staat werden sollte, bis heute nichts zu sagen haben.
Mit detailliertem Kartenmaterial ordnete Rogg sodann die drei Familien, deren Schicksal er im Anschluss genauer schilderte, geographisch ein. Zwei der Familie leben in Masafer Yatta, einem Gemeindeverband von ca. 20 palästinensischen Dörfern in den South-Hebron-Hills, im südlichen Teil der Westbank. Das ist die Region, in der auch der inzwischen vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilm No Other Land gedreht wurde. Die dritte Familie lebt in der Nähe der Stadt Nablus, die weiter im Norden der Westbank liegt.
Das Schicksal der drei Familien steht stellvertretend für viele palästinensische Bauern in der Westbank. Der gemeinsame Nenner ist:
Einschüchterung, Drangsalierung und Vertreibung durch jüdische Siedler, die von der israelischen Besatzungsarmee unterstützt werden.
Die Vertreibungen verstoßen eindeutig gegen die Vierte Genfer Konvention.
Eine Konstante bei diesen Aktionen ist die Zerstörung von Häusern, Ställen und Schuppen. Viele palästinensische Familien haben das bereits mehrfach erlebt. Weitere Aktionen der jüdischen Siedler: Sie schädigen oder vernichten die Felder, indem sie beispielsweise die keimende Saat mit Traktoren plattfahren oder ihre eigenen Schafe kurz vor der Getreideernte in ein Feld treiben; Olivenbauern werden bei der Ernte ihrer Früchte massiv behindert; oft werden auch uralte Olivenbäume mit Baggern ausgerissen oder ganze Olivenhaine abgefackelt; auch vor der Tötung von Nutztieren schrecken die Siedler nicht zurück, was einige Fotos von verendeten Jungtieren – Ziegen, Schafen, Eseln – auf beklemmende Weise dokumentieren. Sinnlose Vernichtung, nur um zu zeigen, wer das Sagen hat; und letztlich mit dem Ziel, den palästinensischen Bewohnern das Leben so unerträglich zu machen, dass sie ihre angestammte Heimat „freiwillig“ verlassen.
In den South-Hebron-Hills ist die übliche Begründung für die Vertreibungen, dass das Gebiet als militärisches Übungsgelände gebraucht werde; das ist in dem erwähnten Dokumentarfilm ebenfalls immer wieder zu hören. Mit dieser Begründung werden – wohlgemerkt – Familien vertrieben, die zum Teil seit Jahrhunderten das Land bewirtschaften und ihren Anspruch darauf dokumentieren können; sie haben die nötigen Rechtstitel, um dort zu leben. Aber abgesehen davon, dass die Vertreibungen selbst, wie gesagt, gegen geltendes Völkerrecht verstoßen, muss man auch feststellen, dass die Begründung eine glatte Lüge ist. Auf vielen Fotos, die Rudolf Rogg zeigte, ist deutlich zu sehen, dass auf Hügeln in der Umgebung neue jüdische Siedlungen entstehen. Es handelt sich also eindeutig um ethnische Säuberung: Die ursprünglichen Bewohner des Landes werden vertrieben, um Platz zu machen für jüdische Siedler.
In der Diskussion, die auf den Vortrag folgte, wurde die große Betroffenheit der Zuhörer:innen sehr deutlich. Und mehrfach wurde die Frage gestellt, was man machen kann, um gegen die unhaltbaren Zustände vorzugehen. Leider ist es wohl so, dass sorgfältige Dokumentation und Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit nach wie vor die entscheidenden Mittel sind. Eine wirkliche Handhabe zur Änderung der Verhältnisse ist angesichts der Haltung der Politik in Deutschland bedauerlicherweise in absehbarer Zeit kaum zu erwarten.
© Fotos: von der Westbank: Rudolf Rogg
von der Veranstaltung: Klaus Bochem
„Israel weitet Militäreinsatz im Westjordanland aus“
Johannes Zang:
Das Massaker des 7. Oktobers 2023 und seine
Vorgeschichte
B u c h v o r s t e l l u n g
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Zu Recht wies Johannes Zang schon im Titel seines Vortrags darauf hin, dass der zu verurteilende Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 eine Vorgeschichte hat. Das hatte bereits António Guterres betont, als er wenige Wochen nach dem Überfall anmerkte, dieser sei "nicht im luftleeren Raum" entstanden. Der Referent konkretisierte dies, indem er - beginnend mit der ersten Alijah (Einwanderungswelle) - die wesentlichen Etappen erläuterte, die zu einer immer stärkeren Marginalisierung der Palästinenser im eigenen Land führten, im Gazastreifen bis hin zu dem Zustand, der vielfach als "größtes open air-Gefängnis" der Welt bezeichnet wird. Er berichtete von eigenen früheren Besuchen im Gazastreifen und von den vielen Interviews, die er dort geführt hat. Sie alle machen deutlich, dass die Situation dort bereits in den letzten Jahrzehnten immer prekärer wurde. Die Schilderungen verdeutlichten, was die UNO meinte, als sie bereits 2015 davor warnte, dass die Region im Jahre 2020 nicht mehr bewohnbar sein könnte.
Ausgewählte Augenzeugenberichte - oft von ausländischen Ärzten, die dort einige Zeit Dienst tun - über die aktuelle Situation gut ein Jahr nach Beginn des gegenwärtigen Krieges, ergänzt durch Statistiken aus glaubwürdigen Quellen, machten das ganze Grauen der Lage der Palästinenser:innen deutlich, die unter mehrfachen Vertreibungen, Hunger, fehlender medizinischer Versorgung usw. leiden. Auch die Folgen eines Verbots der UNRWA, das Israel für Ende Januar 2025 angekündigt hat, wurden erörtert.
Der Vortrag endete mit "kleinen Zeichen der Hoffnung", die bereits in der Einladung angekündigt waren: Zang stellte einige zivilgesellschaftliche Initiativen vor, die - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - arbeiten.
Das ändert allerdings nichts daran, dass die Lage zurzeit verzweifelt ist.
Im anschließenden Gespräch wurde das von den ca. 30 Teilnehmer:innen, von denen sich etliche sehr gut informiert zeigten, deutlich artikuliert - wie auch das völlige Unverständnis dafür, dass die internationale Politik einschließlich der deutschen es nicht schafft, den drohenden Genozid zu beenden.
Foto: © Klaus Bochem
Dr. Tamar Amar-Dahl:
Militarismus und Krieg im Heiligen Land
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Einige ergänzende Angaben zur Referentin:
Dr. Tamar Amar-Dahl studierte Geschichte und Philosophie in Tel Aviv und Hamburg und promovierte an der Ludwig-Maximilian-Universität in München mit einer vielbeachteten Biografie über Israels Altpolitiker: Shimon Peres. Friedenspolitiker und Nationalist (2010).
Weitere Publikationen:
Frau Amar-Dahl schreibt regelmäßig Rezensionen für Sehepunkte, das renommierte Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften.
Das oben genannte Buch "Der Siegeszug des Neozionismus" (Februar 2023) ist für manche einer der wichtigsten Titel, die im Jahr 2023 - deutlich vor dem Überfall der Hamas am 7. Oktober - zum Thema Palästina/Israel erschienen sind. Denn es vermittelt wesentliche Erkenntnisse über gesellschaftliche Entwicklungen in Israel, die zu dem verheerenden, aus unserer Sicht völlig unverhältnismäßigen Vernichtungsfeldzug im Gazastreifen geführt haben. Damit liefert es einen unverzichtbaren Beitrag zu dem, was der UNO-Generalsekretär António Guterres schon bald nach dem barbarischen Überfall mit dem Wort "Kontext" angesprochen hat und mit der Bemerkung, dass dieser Überfall "nicht im luftleeren Raum" stattgefunden habe. Von der israelischen Regierung wurde er dafür heftig gescholten, der Relativierung und Verharmlosung dieses Überfalls und gar des Antisemitismus bezichtigt. Wer das Buch liest, kann über solche Beschuldigungen nur den Kopf schütteln. Denn dass es einen "Kontext" im Sinne einer vor allem auch ideologischen Vorgeschichte gibt, ist völlig unbestreitbar; und ihn aufzuzeigen, hat nichts mit Verharmlosung und Relativierung zu tun und gar nichts mit Antisemitismus. Es geht vielmehr darum, Zusammenhänge und Mechanismen zu erkennen und zu verstehen, die katastrophale Folgen haben - um sie künftig frühzeitig wahrnehmen und gegensteuern zu können. Dieses "Verstehen" meint also "begreifen" und bedeutet nicht, wie auch deutsche Politikerinnen und Politiker leider immer wieder unterstellen, in einem relativierenden Sinne "Verständnis haben". Es geht um die Beherzigung des bekannten Ausspruchs des spanischen Philosophen George (Jorge) Santayana: "Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen." Zusammenhänge und Mechanismen genau wahrzunehmen und zu begreifen - und in diesem Sinne zu "verstehen" -, ist folglich eine der wichtigsten Aufgaben der Historikerin und des Historikers.
In der Veranstaltung am 21. September vermittelte die Historikerin Tamar Amar-Dahl in einem anspruchsvollen Vortrag den Zuhörerinnen und Zuhörern tiefe Einblicke in die Politik und Gesellschaft des Staates Israel. Sie gab einen Überblick über die verschiedenen Strömungen und Lager im Land - Säkulare und Religiöse, Nationalreligiöse und Ultra-Orthodoxe, Linkszionisten - Rechtszionisten - Neozionisten usw. Es gebe, so führte sie aus, nicht nur einen Konflikt zwischen Israel auf der einen und Hamas, Hisbollah und dem Iran auf der anderen Seite, sondern auch heftige Konflikte in der israelischen Gesellschaft, die man als eine Art geistig-kulturellen Bürgerkrieg werten könne.
Als eines der grundlegenden Probleme des Staates Israel beschrieb sie die Tatsache, dass die Palästina-/Palästinenser-Frage nicht nur bis heute nicht gelöst wurde ("das grundlegende Legitimationsproblem des Staates Israel"), sondern auch aus dem Bewusstsein der israelischen Gesellschaft völlig verdrängt worden sei: Sie werde in Israel so gut wie nicht diskutiert, habe bei den letzten Wahlen beispielsweise überhaupt keine Rolle gespielt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Vortrags war das Phänomen des sog. "Zivil-Militarismus". Mit diesem Begriff hatte der israelische Soziologe Baruch Kimmerling den Konsens in der israelischen Zivilgesellschaft beschrieben, alle Sicherheitsfragen dem Militär zu überlassen, diesem damit quasi eine Blanko-Vollmacht zu erteilen. Die Folge: Sicherheitsfragen werden nur unter rein militärisch-operativen Gesichtspunkten betrachtet und angegangen, nicht aber unter politischen. Frau Amar-Dahl nannte dies die "Entpolitisierung der Palästinafrage". Eine politische Betrachtung des Problems müsste z.B. nach tieferliegenden Ursachen des Konflikts fragen; die rein militärische fragt nur, wie ein Konflikt mit militärischen Mitteln möglichst effektiv gelöst werden kann. Hier gilt ein unbedingter Primat des Militärs vor der Politik. Hinzu kommt, dass in der Militärdoktrin Israels der Einsatz unverhältnismäßiger Mittel, wie er im Gaszastreifen (und nicht nur in dem aktuellen Krieg) zu beobachten ist, ausdrücklich gefordert wird. Eine der erschreckendsten Erkenntnisse, die das Buch wie auch der Vortrag vermitteln: die Akzeptanz übermäßiger Gewalt als Selbstverständlichkeit.
Die letzten Anmerkungen machen bereits deutlich, dass es in dem Vortrag nicht nur um den Inhalt des vor anderthalb Jahren erschienenen Buches ging, sondern natürlich auch um den gegenwärtigen Gaza-Krieg. Hierzu konnte Frau Amar-Dahl einige Informationen geben, die dem deutschen Blick in der Regel verborgen bleiben, z.B. bezüglich der heftigen Auseinandersetzungen zwischen Premier Netanjahu und den führenden Militärs. Der beschriebene "Zivil-Militarismus" wiederum wird gegenwärtig deutlich in der Tatsache, dass die israelische Zivilgesellschaft zwar die Handhabung der Geiselfrage heftig kritisiert, aber den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt im Gazastreifen und neuerdings auch im Libanon mit großer Mehrheit unterstützt.
Die anschließende Diskussion machte deutlich, dass bei aller Verwirrung über die aus deutscher Sicht unübersichtlichen Strömungen und Fraktionen in der israelischen Gesellschaft das Interesse an den Hintergründen der ständigen Spannungen und Konflikte sowie an der Frage, wie sie überwunden werden könnten, bei uns nach wie vor sehr groß ist.
Video-Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=5BSe2oIJCxw
Fotos: © Klaus Bochem
Die Lage in der Westbank vor dem Hintergrund des Gaza-Krieges
Vortrag und Diskussion
mit der Reiseführerin Hiam Abu-Dahhyeh aus Beit Jala
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Der Arbeitskreis führte zunächst kurz in die politisch-geografischen Gegebenheiten ein: Verlauf der „Sperranlage“, die die Westbank abschottet, deren Einteilung in drei Zonen und Lage der wichtigsten Orte (s.u.).
Frau Abu-Dayyeh nutzte anschließend die Gelegenheit, die Geschichte Palästinas seit dem Ende des 19. Jhs. darzustellen, also seit der ersten zionistischen Einwanderungswelle („Alija“). Gestützt auf Bevölkerungsstatistiken und viele historische Fotos zeigte sie, wie die Palästinenser:innen in ihrem eigenen Land durch die Zuwanderer unter Druck gerieten. Über den israelischen Unabhängigkeitskrieg und die damit verbundene Vertreibung von über 700.000 Palästinenser:innen („Nakba“) im Jahre 1948 zog sie die Linie bis zur gegenwärtigen Situation: den Zerstörungen und Vertreibungen im Gaza-Krieg, der mit dem Überfall der Hamas auf die israelische Grenzregion am Gazastreifen am 7. Oktober 2023 begann, sowie den Auswirkungen dieses Krieges auf das Westjordanland.
Sie schilderte das immer aggressivere Auftreten der zionistischen Siedler:innen dort und ihre Unterstützung durch das Militär. Die Siedler:innen bedrohen die palästinensischen Landwirte, die bei der Olivenernte ebenso behindert werden wie insgesamt bei der Bestellung ihrer Felder. Hinzu kommen zunehmend Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für die Palästinenser:innen durch mobile Checkpoints, aber mehr noch durch das Absperren von Straßen durch Erde und Schutt, die auf den Straßen aufgehäuft werden. Kraftfahrern, die trotz aller Einschränkungen in der ganzen Westbank beruflich unterwegs sein müssen, wird dadurch nicht nur ihre Arbeit enorm erschwert; vielmehr leben sie und ihre Angehörigen aufgrund der aggressiven Stimmung im Land in ständiger Angst um ihr Leben und eine sichere Heimkehr.
Den 35 Teilnehmer:innen wurde durch den Vortrag anschaulich vor Augen geführt, wie sehr das ohnehin seit Jahrzehnten durch die israelische Besatzung stark eingeschränkte Leben in der Westbank durch die Auswirkungen des Gazakrieges noch einmal deutlich erschwert wird. Deutlich spürbar war die persönliche Betroffenheit der Referentin, die in Beit Jala lebt.
Fotos: © Klaus Bochem
Karte von 06/2013
Combatants for Peace
Vortrag und Diskussion mit einem jüdischen und einem palästinensischen Mitglied dieser Friedensinitiative
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